Manchmal spaziere ich mit meinen Kindern durch die Straßen meiner kleinen Heimatstadt und beobachte achtsam die Menschen um ums herum. Ich schaue sie mir an und überlege, was sie wohl gerade bewegt. Wo sie wohl gerade her kommen. Was heute ihr Ziel sein mag. Und ich frage mich auch oft, wie genau ihr Leben wohl begonnen haben mag. Das Leben des kleinen alten Herrn am Stock mit der Schiefermütze und dem unsicheren Blick, der in meiner Kindheit unser Vermieter war und vor dem ich mich fürchtete. Welche Bindungserfahrung hat er wohl gemacht in seiner frühen Kindheit? Welche Traumata erlitten in Kriegszeiten? Das Leben der lockigen Verkäuferin mit den hoch geschminkten Augenbrauen, die in einem anderen Land zur Welt kam. Auf welche Art und in welchem Umfeld wurde sie wohl geboren? Das Leben des Gemüsehändlers, der immer so fröhlich wirkte und immer mehr gab, als er bekam. Wie er wohl aufgewachsen sein muss? Ob er sich in den Schlaf schreien musste Nacht für Nacht?

Wenn es ein Vertrauensverhältnis zulässt, frage ich gerne meine Mitmenschen, wie ihre eigene Geburt verlaufen war und was sie darüber denken. Ich sehe einen Menschen an und frage mich, wie viele, die mir gegenüber stehen, haben wohl eine traumatische Geburtserfahrung nicht aufgearbeitet? Wie viele von den schon erwachsenen aber auch jungen Menschen um mich herum, die täglich Beziehungen leben, wurden wohl aus welchen Gründen auch immer, vor Verzweiflung und Angst schreiend allein gelassen, „um das Schlafen zu lernen“? Wie viele verletzte Kinder bestimmen jeden Tag unbewusst und unerkannt das Wirken unserer Gesellschaft, den Alltag einer Schulklasse, die Diagnostik einer Kinderärztin?

Elternschaft lässt uns die eigene Kindheit begreifen

„Wir feierten jede Wehe“, so begann mein Leben auf dieser Welt. Im Wohnzimmer meines beschützten Elternnestes. In Ruhe und mit Zeit. Meine Kindheit würde ich als sehr bindungsnah und beziehungsorientiert beschreiben. Ich durfte der richtige Mensch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Ich durfte in meinem Tempo wachsen und lernen. Ich durfte partizipieren, mich selbst erfahren und Emotionen zeigen. Im Laufe meines Erwachsenwerdens, doch spätestens seit ich selbst eigene Kinder begleite, begreife ich zunehmend, wie wenig selbstverständlich diese Art des Aufwachsens für viele Menschen ist. Wie sehr geprägt das Handeln und die Kommunikation von Machtausübung, Unterdrückung von Emotionen, von Vergleichen und Abwerten, von Zwingen in unpassende Ressourcenkostüme ist.

Wenn ich so genau darüber nachdenke, mir den Lebensbeginn der Menschen, die im Café um mich herum sitzen, vorstelle. Wenn ich erlebe, welche Ratschläge an junge Eltern heran getragen werden. Dann macht es mich traurig. Es bringt mich beinahe zum Weinen. Mir steigt förmlich die Angst, welche in einem schreienden Kind brennt und die Verzweiflung, die junge Eltern weit fort von ihrem Bauchgefühl treibt, die Kehle hinauf. Doch dann schwemmt sich meine Kraft darüber. Mein Gerechtigkeitsbedürfnis, mein Mitgefühl formt sich zu einem Aufklärungswunsch. Und zu einem Wunsch die Menschen und besonders Mamas und Papas zu entlasten, zu sich zurück und in eine liebende Umgebung voller Wertschätzung zu begleiten.

Eltern zu werden, lässt uns die eigene Kindheit erst in jeder Faser begreifen. Erst wenn wir selbst Eltern sind und eigene Kinder schützen und lieben, können wir (aus meiner Sicht) verstehen, welche Liebe, aber auch welche Not unsere eigenen Eltern empfunden haben müssen. Welche Gedanken, sie sich gemacht haben oder auch nicht. Manche Erkenntnis kann rückblickend sehr schmerzhaft sein, auch wenn sie uns als „Single“ohne Kinder ganz und gar nicht tangierte. Und manche Erinnerungen können sich geborgen und weich anfühlen. Das sind meist diese, welche wir in unser persönliches Erziehungskonzept mit einschließen.

Als Eltern durch den Empfehlungsdschungel finden

Seit vier Jahren bin ich nun Mutter. Eigentlich seit fast fünf, denn Mutter bin ich von Anfang an. Vom ersten Tag der Schwangerschaft, mindestens. Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, war es wohl bisher die intensivste Zeit in meinem Leben, an die ich mich bewusst erinnere. Ich erlebte Emotionen, welche Naturgewalten gleichen. Niemals zuvor hatte ich solchen Schmerz und solche Angst gespürt. Niemals zuvor war mir bewusst, zu welcher bedingungslosen tiefen Liebe und Kraft ich im Stande bin. Mama zu sein, lässt mich alles neu überdenken und treibt mich aus sämtlichen Komfortzonen heraus.
Es gab eine Zeit, in meiner frühen Mutterschaft, die geprägt war von Verunsicherung und Rechtfertigung. Ich war ganz stark auf der Suche nach dem für uns passenden Weg und eckte damit in meinem Umfeld oft an. Doch der starke Wunsch, den wahren evolutionsbedingten Bedürfnissen unseres Kindes und uns als Eltern auf den Grund zu gehen, ließ mich auf meinem Weg bleiben. Ich las viel, recherchierte und tue das bis heute. Doch heute bin ich meiner selbst immer sicherer – übrigens ein grandioser Nebeneffekt auf der Reise der Elternschaft – ich kämpfte mich durch Empfehlungsdschungel und gut gemeinte Ratschläge und wuchs und wuchs und wuchs. Trotzdem war ich zu Beginn meiner Mutterschaft noch sehr schüchtern, fühlte mich anders und oft allein. Dabei gab es auch damals schon so viele Frauen und Familien, die ähnliches bewegte – ich wusste es bloß noch nicht.

Es kann nie genug bindungsorientierte Angebote geben

Innerhalb meines persönlichen Wachstums als Mama wandelte sich auch mein Umfeld. Kontakte, die mich unterstützten oder wenigstens offen und interessiert gegenüber meiner Haltung sind, wurden mir wichtiger. In einem, zugegeben zu Beginn sehr abgespeckten und doch reicherem, Freund*innen- und Bekanntenkreis fühlte ich mich getragen mit meinen Gedanken und Visionen und wurde selbstbewusster, mich mit diesen zu zeigen. Es begegneten mir mehr und mehr Menschen, die sich angesprochen fühlten, ähnlich dachten, sich mit mir trauten, sichtbarer zu werden, denn „zusammen sind wir weniger allein“ und der Austausch über unsere Themen trägt uns weiter auf unserer gedanklichen und emotionalen Flussfahrt. Ich begann mir meiner Kompetenz als Pädagogin und Mutter bewusst zu werden und meine Größe anzuerkennen.

Heute bin ich mir der Gestaltung unseres persönlichen Familienlebens so sicher, dass ich manchmal vergesse, wie es mir ging, als unser erstes Kind
wenige Monate alt war und ich grübelte, ob es tatsächlich möglich ist, es zu „verwöhnen“. Ich vergesse manchmal, wie viel ich schon gelesen und mich ausgetauscht habe. Und dass dort draußen so viele Eltern sind, die das noch nicht getan haben und so sehr auf der Suche sind. Die ebenso wie ich damals, noch nicht wissen, wie viele wir sind, die ihr Familienleben bindungsnah und beziehungsorientiert gestalten wollen. Und dass es in Ordnung ist und sie sich richtig fühlen dürfen. Um ihre Kinder zu selbstbewussten, resilienten Menschen heran wachsen zu lassen, die sich geliebt und getragen fühlen und in der Lage sind anderen ebenso zu begegnen.

„Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern!“

Es kann nie genug Menschen geben, die ihre Mitmenschen mit Worten in den Arm nehmen und sagen – du bist richtig so, wie du bist! Du bist genug! Dein Kind ist genug und bringt alle Fähigkeiten mit, die es für seine individuelle Entwicklung braucht. Es kann nie genug Menschen geben, die bindungsorientierte Angebote, wie Blogs, Eltern-Kind-Gruppen und ähnliches ins Leben rufen. Es kann nie genug geben, die sich für Liebe und Wertschätzung entscheiden und stark machen.

Wie ist das in eurer Umgebung, gibt es dort viele Angebote mit dem Schwerpunkt Bindung?

Eure Jana*

Dieser Artikel formte sich aus einem bereichernden Austausch mit bindungsorientiert schreibenden Frauen von:

Geborgen Wachsen

Kindherzgedanke

Selbstbestimmt Leben und Gebären

Terrorpüppi

Familienleicht

Erdbeerpause

Herbstkinder

Babytalk.world

3 Kommentare

  1. Veröffentlich von Lila am März 19, 2018 um 7:39 pm

    Ein wundervoller Text!! Ich selbst bin alles andere als Bindungsorientiert aufgewachsen und habe selbst erst reinfinden müssen. Es fällt mir nicht immer leicht, aber ich arbeite an mir. Ich lebe hier bei mir im Dorf wie wenige Familien jemals etwas davon gehört haben. Im Bayerischen Hinterland ist alles sehr traditionell und die Angst zu verwöhnen sehr groß. Daher ist es ja auch so besonders wichtig das viel darüber berichtet wird!
    Liebe Grüße!

    • Veröffentlich von fraubirnbaum am März 20, 2018 um 12:26 pm

      Danke dir für deine lieben Worte! Ja so ist es tatsächlich. Tatsächlich gibt es in diesem Bereich noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten…und das vergesse ich manchmal 😉 Alles Liebe!

  2. Veröffentlich von Kleinstadtlöwenmama am März 22, 2018 um 11:34 am

    Danke für Deinen Text! Du hast völlig recht! Ich denke zwar auch manchmal, dass ja schon alles irgendwann mal geschrieben wurde, aber dann lese ich wieder einmal einen Text über… zum Beispiel Wut – und werde wieder einmal an meine eigenen Werte und Ziele erinnert! Das zählt!

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